Proteste in Kalk I

Claus Ludwig

Seit fast einer Woche demonstrieren mehrere Hundert junge Menschen in Kalk, Anlass ist ein tragischer Todesfall.

Wir wollen und können die Geschehnisse, die zum Tod des 17jährigen Salih geführt haben, hier nicht bewerten. Aber die Jugendlichen in Kalk haben eine klare Botschaft: sie haben große Zweifel daran, dass die Ermittlungen sorgfältig geführt werden. Sie können sich nicht vorstellen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft schon nach wenigen Stunden eindeutig sagen können, dass es sich um Notwehr handelt.

Sie haben das Gefühl, dass sie nicht die gleichen Rechte in diesem Land haben; sie denken, dass ein toter Marokkaner nicht so wichtig ist, dass hingegen kriminelle Handlungen von ausländischen Jugendlichen medial ausgeschlachtet werden. Auf den Kundgebungen reden viele von ihnen über Diskriminierung und Rassismus im Alltag, berichten, was sie erlebt haben. Das Gefühl der Jugendlichen, Bürger zweiter oder dritter Klasse zu sein, wurde durch die Kampagne von Roland Koch in Hessen in unerträglicher Weise verschärft.

Seine Propaganda gegen ausländische Jugendliche sollte Wählerstimmen mobilisieren. Das ist nach hinten losgegangen, weil die Menschen spüren, dass wir ernsthafte, gemeinsame Probleme haben, wie z.B. Arbeitslosigkeit und niedrige Löhne. Aber die Kampagnen bleibt leider nicht wirkungslos. Durch solche Wahlkämpfe wird der Spaltpilz in unsere Veedel getragen, die Entfremdung zwischen Deutschen und Nichtdeutschen verstärkt.

Anlass für die Kalker Demonstrationen war die Trauer um einen Freund. Doch dies hat sich entwickelt zu Protesten gegen Ausgrenzung und Diskriminierung, für gleiche Rechte und Gerechtigkeit. Die Jugendlichen haben spontan und selbstorganisiert den Weg sozialer Mobilisierung und politischen Protests gewählt. Sie haben weder still zu Hause getrauert und die Ungleichbehandlung beklagt noch haben sie sich zu einer ?Gang? formiert und anderen den Kampf angesagt.

Ihre Forderungen sind zutiefst demokratisch: Gleichbehandlung und Gerechtigkeit für alle. Sie bilden keine ?Parallelgesellschaft?, schotten sich nicht ab. Sie wenden sich an die Öffentlichkeit, appellieren an Politik und Justiz, an die Bevölkerung. Sie zeigen, dass sie ein Teil dieser Gesellschaft sind. Kurz: sie machen eigentlich genau das, was immer laut gefordert wird.

Wir als Linke unterstützen diese Selbstorganisation von jungen Migranten, wir unterstützen ihre Forderungen nach gleichen Rechten und nach Zukunftsperspektiven für alle Jugendlichen. Aktionen wie diese sind keine Gefahr, sondern bieten die Chance, die nationalen, ethnischen und kulturellen Unterschieden nach hinten zu stellen und in den armen Vierteln wie Kalk gemeinsam für Teilhabe und gegen Ausgrenzung zu kämpfen. Die Bewegung der jungen Migranten in Kalk ist daher ? trotz des traurigen Anlasses ? ein Schritt nach vorne.

Weniger positiv ist die Reaktion von Politik und Verwaltung und Polizei, von den Medien ganz zu schweigen. Ich stimme mit dem Polizeipräsidenten Steffenhagen überein, wenn er sagt, dass Äußerungen wie die von Ihnen Herr Granitzka, wir säßen auf einem ?Pulverfass? und es drohten ?Verhältnisse wie in den Pariser Vorstädten? gefährlich sind und die Probleme anheizen anstatt sie zu lösen. Herr Steffenhagen sprach davon, sie gössen Öl ins Feuer, in der Presseerklärung meiner Fraktion am Freitag schrieben wir, sie, Herr Granitzka redeten davon, auf einem Pulverfass zu sitzen und spielten dabei selbst mit einem Streichholz.

Was wollten sie bezwecken, Herr Granitzka? War das Wahlkampfhilfe für Roland Koch auf dem letzten Drücker? Ähnlich haben einige Journalisten agiert. Einer fragte die Jugendlichen voller Enthusiasmus: ?Und ? brennt Kalk heute Abend?? Und das nach einer Woche friedlicher Proteste, auf denen immer wieder zur Besonnenheit aufgerufen wurde!

Ich stimme allerdings nicht mit Herrn Steffenhagen überein, wenn er das Vorgehen der Polizei als ?besonnen? beschreibt. Die Polizeipräsenz war massiv, geradezu erdrückend. Die Proteste der jungen Leute wurden durch eine mehrfach gestaffelte Polizeikette von der Kalker Hauptstraße abgeschirmt. Ein Kontakt zur ?Normalbevölkerung? wurde unterbunden. Der traurige Höhepunkt war der vergangenen Freitag: eine Demonstration von überwiegend sehr jungen und weiblichen Jugendlichen wurde mit mehreren Polizeiketten vorn und hinten und einer vollständigen Seitenbegleitung durch die Kalker Nebenstraßen geführt ? obwohl bis dahin 4 Tage lang nicht das Geringste passiert war.

Ein Sprecher sagte: ?Sie behandeln uns wie Fußball-Hooligans.? Zuvor wurden sämtliche Zufahrtsstraßen nach Kalk kontrolliert. Fußgänger und Autofahrer, die ausländisch aussahen, wurden kontrolliert, deutsch Aussehende nicht. Als ich gegen diese Maßnahme protestierte und meinen Eindruck schilderte, dass selektiv nach dem Kriterium ?Ausländer? kontrolliert würde, sagte der zuständige Beamte vor Ort, ich zitiere wörtlich: ?Das kann ich bestätigen: Blonde kontrollieren wir nicht.? Lassen Sie diese Äußerung ruhig etwas sacken: ?Blonde kontrollieren wir nicht.? Solche Aktionen lassen sich nur als Polizeistaatsübung bezeichnen.

Das Aufgebot von mehreren Hundertschaften ist eine negative Aktion. Sie verstärkt die Spannungen innerhalb der Bevölkerung. Die Jugendlichen, die durch die Polizeiketten begrenzt werden, sagen: ?Die behandeln uns wie Affen im Käfig.? Und mancher Unbeteiligter, der nur die Krawall-Medien verfolgt, mag denken: ?Wo Rauch ist, ist auch Feuer.? ? wo soviel Polizei ist, sind wohl auch Straftäter.

Die jungen Leute haben politisch agiert. Sie haben den Dialog gefordert, mit den Vertretern der Stadt. Gekommen ist keiner. Es ist ja schön und gut, dass Mitarbeiter des Sozial- und Jugendamtes vor Ort waren. Aber die Jugendlichen haben auch gefordert, dass sich die Politiker blicken lassen. Wo waren Sie, z.B., Herr Schramma? 200-300 ihrer Bürger demonstrieren jeden Tag, aus Trauer, aus Sorge um mangelnde Gerechtigkeit. Sie sind doch sonst auch nicht um Ortstermine verlegen?! Auch von den anderen etablierten Parteien hat sich niemand dort blicken lassen.

Allein ihre Reaktion auf die Proteste zeigt, dass diese Leute eben nicht gleichberechtigt sind, nicht für voll genommen werden. Sie wollen Aufklärung und politischen Dialog, sie bekommen ein Riesenaufgebot der Polizei. Sie wollen mit den Vertretern von Stadt und Politik reden, diese reden lediglich über sie, meistens, als ob sie nichts wären als ein ?Sicherheitsrisiko?.

Die Ursachen der Proteste in Kalk liegen in der sozialen Katastrophe, die sich in großen Teilen dieses Landes entwickelt, in Massenarmut, Perspektivlosigkeit und speziell der Ausgrenzung von Einwanderern und ihren Kindern. Die Jugendlichen ? überwiegend arabischer, türkischer und kurdischer Herkunft, aber unter ihnen deutsche Mitschüler ? rebellieren absolut zu Recht gegen schlechte Job- und Zukunfsaussichten, gegen die Ungleichbehandlung. Das ist nicht polizeilich zu lösen, sondern nur, indem ihre Forderungen ernst genommen und die Probleme angegangen werden.