20 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen erneut Debatte ums Asylrecht und die Lebensbedingungen von Flüchtlingen in Deutschland

Claus-Ulrich Prölß (Geschäftsführer des Kölner Flüchtlingsrates e.V.)

Da sind sie wieder, die Kampfbegriffe aus der Zeit der 80er und 90er Jahre: ?Asylbetrüger?, ?Scheinasylant?, ?Asylschmarotzer?, ?Wirtschaftsflüchtling? usw. Die älteren Hasen von uns erinnern sich gut (aber nicht gerne) an den politischen Vorbereitungen zur Abschaffung des damaligen Grundrechts auf Asyl im Jahr 1993.

Die aktuellen Diskussionen in Zusammenhang mit dem Anwachsen der Flüchtlingszahlen und der Unterbringung von Flüchtlingen sind zum Teil hanebüchen, erfüllen aber, damals wie heute, einen Zweck: nämlich die Grundlagen zu schaffen, um das Asylsystem in Deutschland und in der Europäischen Union weiter verschärfen zu können. Der deutsche Verfassungsminister kennt offenbar Art. 16a des Grundgesetzes nicht. Weiß er wirklich nicht, dass sich Flüchtlinge auf Asylgrundrecht und Abschiebeschutz berufen können und nicht er, sondern das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration und die Verwaltungsgerichte für die Prüfung der Asylanträge zuständig sind? Weiß er nicht, dass viele Flüchtlinge auch nach negativem Abschluss des Asylverfahren aus rechtlichen Gründen ? also ?zu Recht? - nicht abgeschoben werden dürfen?

Die Sündenböcke von heute haben Gesichter: es sind die der Roma aus Ex-Jugoslawien. Sowohl die deutschen Stammtische als auch die rechtsradikalen Szenen werden aus Berlin und anderen Orten bestens bedient. Die Debatte schürt Rassismus.

Dass die Realität aber eine völlig andere ist, zeigt der Blick auf die Fakten.

Die Mär von der ?Flüchtlingsflut? und dem ?Asylmissbrauch?

  • Die Weltflüchtlingszahlen steigen seit rd. fünf Jahren. Insofern steigt auch die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland. In der Zeit von Januar bis September 2012 haben insgesamt 40.201 Personen in Deutschland Asyl beantragt. Im gesamten Jahr 2011 wurden insgesamt 45.741 Asylerstanträge gestellt. Die Zahl der Asylerstanträge wird 2012 gegenüber dem Vorjahr tatsächlich steigen. Aber zur Erinnerung: 1992 betrug die Zahl der Asylbewerber in Deutschland 438.191! Aber auch von den Flüchtlingszahlen in Südafrika (107.000 Asylgesuche im Jahr 2011) oder aktuell in der Türkei (alleine 100.000 Flüchtlinge aus Syrien) ist Deutschland meilenweit entfernt.
  • Die Hauptherkunftsländer der Asylsuchenden waren in den ersten neun Monaten 2012: Afghanistan (5.368), Serbien (4.160), Irak (3.931), Syrien (3.721), Iran (2.987), Mazedonien (2.613), Pakistan (2.381), Russische Förderation (1.580), Kosovo (1.129) und Türkei (1.041). Tatsächlich stieg die Anzahl der Asylerstanträge im September 2012 gegenüber dem Vormonat bei serbischen Staatsangehörigen um 899 auf 1.395 und bei mazedonischen Staatsangehörigen um 420 auf 1.040. Ein großer Teil dieser Flüchtlinge sind Roma. Als Fluchtgründe werden von serbischen und mazedonischen Antragstellern größtenteils Diskriminierungen, Ausschluss aus dem Bildungs- und Gesundheitssystem, mangelnde Existenzmöglichkeiten, Krankheiten und menschenunwürdige Lebensbedingungen geltend gemacht. Auch die Europäische Union stellt fest, dass Roma in den Balkanstaaten großen Benachteiligungen ausgesetzt sind.
  • Die Anerkennungsquoten im Asylverfahren sind sehr unterschiedlich. Die sog. Gesamtschutzquote (Gesamtzahl der Asylanerkennungen und des subsidiären Schutzes) betrug in den ersten neun Monaten 2012 33,9%! Zudem wurden 21,9% der Anträge ?anderweitig erledigt?, z.B. durch Verfahrenseinstellungen wegen Rücknahme des Asylantrages.
  • Richtig ist aber auch, dass der Großteil der Asylanträge serbischer und mazedonischer Staatsangehöriger vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgelehnt wird (2011: 64,8% bzw. 67,5%) und die Anerkennungsquoten bei diesen Antragstellern gegen Null tendieren. Dies zeigt allerdings deutlich, dass die Fluchtgründe der Antragsteller vom deutschen Asylsystem nicht ausreichend berücksichtigt werden. Von ?Asylmissbrauch? kann daher keine Rede sein.

Asylsuchende und sog. ?unerlaubt eingereiste Personen? werden nach Aufnahmequoten auf die Bundesländer verteilt und schließlich in die Kommunen zugewiesen. Die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen ist eine Pflichtaufgabe, keine ?freiwillige Leistung?.

Unterbringungschaos ist zum Teil hausgemacht

Da die Zahl der Asylerstanträge in Deutschland seit rd. fünf Jahren ansteigt, kann niemand überrascht sein, dass sie weiterhin ansteigt. Das Land sowie die Kommunen in NRW haben trotz Kenntnis dieser Entwicklung versäumt, die Unterbringungskapazitäten entsprechend zu erhöhen. Das aktuelle Unterbringungschaos ist zu einem bestimmten Teil hausgemacht:

Die Bezirksregierung Arnsberg hat bereits in einem Anschreiben vom 15.10.2010 an alle Kommunen des Landes NRW auf das Ansteigen der Flüchtlingszahlen hingewiesen: Die Zugangszahlen ?haben bereits sowohl in der Erstaufnahmeeinrichtung Dortmund als auch in den Unterbringungseinrichtungen des Landes NRW (Hemer und Schöppingen) zu einem Erreichen und zeitweiligen Überschreiten der Kapazitätsgrenze geführt. Dementsprechend mussten auch meine Zuweisungen in alle Kommunen des Landes NRW in diesem Zeitraum zunehmen und werden nach den letzten Prognosen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auch weiterhin steigen. Ich bitte diese Entwicklungen bei Ihren Planungen für die Unterbringung der Ihnen zugewiesenen Asylbewerber zu berücksichtigen?.

Die Mahnung aus Arnsberg spricht für sich. Wer hat den Brief eigentlich wirklich gelesen?

Auch in der Stadt Köln liegen die Nerven blank. Nicht erst, als der Landesinnenminister die Stadt anwies, 200 Flüchtlinge vorübergehend aufzunehmen. Zuletzt teilte die Kämmerin in Zusammenhang mit der von ihr erteilten Haushaltssperre mit, der Anstieg der Flüchtlingszahlen sei hierfür als ?weitere zusätzliche Belastung? mitverantwortlich. Mit anderen Worten: Flüchtlinge, die schlicht ihre Rechte wahrnehmen, trügen Mitschuld an der Finanzmisere. Oder hat sie es nicht so gemeint?

Tatsache ist aber, dass die Flüchtlingsheime in der Stadt voll bis überbelegt sind.

Flüchtlingsunterbringung in Köln   Das waren sie aber schon vor einem Jahr. Deshalb wurde Ende 2011 die Notunterkunft in der Herkulesstraße eingerichtet. Der Kölner Stadtrat hat im Jahr 2003 den Runden Tisch für Flüchtlingsfragen eingerichtet. Dieses Gremium hat in der Vergangenheit sehr viel bewirkt, z.B. die Leitlinien für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen entwickelt oder die Studie Menschen ohne Papiere in Köln veranlasst. Der Runde Tisch sollte mehr als bisher und systematisch an den für Flüchtlingsfragen relevanten Verfahren und Entscheidungen beteiligt werden.

Die Forderung des Kölner Flüchtlingsrates, eine Sondersitzung des Runden Tisches einzuberufen, wurde gerade eben erfüllt. Sie wird in der 2. Novemberwoche stattfinden.

Vorschläge:

  • Die Hürden bei der Erteilung der Erlaubnis zum Wohnheimauszug sollten drastisch gesenkt und das erfolgreich operierende Projekt ?Auszugsmanagement? personell ausgeweitet werden: Jeder Flüchtling, der eine Privatwohnung bezieht, schafft Platz für andere in den Flüchtlingswohnheimen.
  • Die Notunterkunft in der Herkulesstraße für Flüchtlinge, die nicht der Stadt Köln zugewiesen sind, sollte innerhalb des Gebäudes kurzfristig ausgebaut werden, um mehr Menschen dort vorübergehend aufzunehmen. Für die Flüchtlinge sollten dann aber auch mehr Beratungs- und Betreuungsangebote vorgehalten werden.
  • Die in den Kölner ?Leitlinien für die Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen? verankerten Standards sollten auch im Hinblick auf weitere Unterbringungseinrichtungen für nach Köln zugewiesene Flüchtlinge unbedingt beibehalten werden.
  • Neue Unterbringungseinrichtungen für nach Köln zugewiesene Flüchtlinge sollten nur mit abgeschlossenen Wohneinheiten errichtet werden.
  • Bei städtischen Liegenschaften sollte ergebnisoffen die Möglichkeit einer entsprechenden Nutzung und ggf. Bebauung geprüft werden.
  • Den Trägern der Flüchtlingsarbeit sollte pauschal der unbeschränkte Zugang zu allen Wohnheimen und Notunterkünften gewährt werden, um die z.T. im Auftrag des Landes durchzuführende soziale Beratung sicherzustellen. Auch könnte hierbei die Zusammenarbeit mit den relevanten Stellen verbessert werden. Neben kurzfristigen Lösungen sollten mittelfristig die städtischen Leitlinien für die Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen überarbeitet werden, um die Flüchtlingsunterbringung konzeptionell zu entwickeln, einen rascheren Wohnheimauszug sicherzustellen und menschenunwürdige Wohnheime in Köln endlich schließen zu können.
  • Es sollte kurzfristig das Gespräch mit dem Innenministerium gesucht werden, um auf die Lage in den Kommunen detailliert aufmerksam zu machen. Das Land sollte auch finanzielle Hilfestellungen geben und die Bezirksregierung Arnsberg die Zuweisungen von Flüchtlingen sehr viel schneller bearbeiten.

Vor allem ist aber auch der Rat der Stadt Köln gefragt ein deutliches ? und öffentliches -  Signal zu setzen, schutzsuchende Flüchtlinge auch weiterhin willkommen zu heißen und die bisherigen humanitären Standards beizubehalten und fortzuentwickeln. Es müssen aber auch konkrete Taten folgen. Hierbei sollten Politik und Verwaltung zusammen mit den Hilfsorganisationen Hand in Hand gehen.