Was tun gegen Kinderarmut? Neue Erkenntnisse auf dem Kommunalpolitischen Ratschlag im November

Andrea Kostolnik

Die Klamotten sind alt und schäbig, das neueste Handymodell total utopisch und am Ende des Monats bleibt den Eltern die Wahl zwischen Stromrechnung bezahlen oder das Pausenbrot finanzieren. So drastisch beschrieb der Kölner Streetworker Franco Clemens die Lebensrealität eines Viertels der Kölner Kinder und Jugendlichen. Denn sie sind arm.

Zusammen mit der Sozialwissenschaftlerin Dr. Carolin Butterwegge erkundete er auf dem Kommunalpolitischen Ratschlag der Linksfraktion in Köln „Was tun gegen Kinderarmut?“ die harte Realität und diskutierte Lösungswege.

Das Leben in Armut ist ständig geprägt von Verzicht. Fällt es kleinen Kindern noch relativ leicht, sich mit dem Wenigen zu arrangieren, wird es zunehmend schwerer, je älter sie werden. Jugendliche vergleichen sich mit Anderen und nehmen ihre beschränkten Möglichkeiten war. Das ist hart in einem Alter, in dem sich Identität auch über die Teilhabe an verschiedenen Konsummöglichkeiten ausbildet. Diese Dauerfrustration kann in Delinquenz münden. Schließlich verabschieden sich Menschen aus dieser Gesellschaft, die ihnen scheinbar keine Chancen bietet – mit allen Konsequenzen für eine funktionierende Demokratie.

Armut zeigt sich zunächst darin, dass die materielle Grundversorgung der Kinder lückenhaft ist. Sie gehen z. B. ohne Frühstück in Kita oder Schule und haben in der beengten Wohnung keinen Rückzugsort wie ein eigenes Zimmer; für neue Schuhe für die wachsenden Füße fehlt das Geld; ein Urlaub ist für die Familie nicht drin.

Aber auch darüber hinaus beeinträchtigt Armut das Leben in vielerlei Hinsicht. Arme Kinder sind nicht so gesund wie ihre Altersgenoss*innen aus Familien mit ausreichendem Einkommen. Sie nehmen seltener an den Kindervorsorgeuntersuchungen teil, ihre Zähne sind schlechter als die ihrer nicht-armen Altersgenoss*innen und sie treiben kaum Sport in Vereinen.

Auch in der Bildung setzt sich diese Benachteiligung fort. Arme Kinder sind nicht weniger intelligent als die nicht arme Vergleichsgruppe. Trotzdem sind sie öfter schlecht in der Schule und erreichen niedrigere Bildungsabschlüsse. Sie werden allerdings auch seltener durch Nachhilfe gefördert und jobben dafür wesentlich öfter neben der Schule. 

So schafft Armut Startbedingungen, die es den Betroffenen schwer machen, der Armut wieder zu entkommen. „Armut hat die Tendenz, sich zu vererben“, stellte Dr. Carolin Butterwegge fest und konstatierte bitter: „Sämtliche politischen Gegenmaßnahmen haben bisher nicht dazu geführt, dass sich das Problem in irgendeiner Form gelöst hätte.“

Doch was schlägt Carolin Butterwegge, Autorin des Sachbuchs „Kinder der Ungleichheit“ stattdessen vor? Gibt es eine bisher unbekannte Maßnahme, die die Benachteiligung von armen Kindern neutralisiert und ihnen eine wirkliche Chance eröffnet, ihre Lebensumstände zu überwinden? Die Lösung ist einfach, doch schwierig durchzusetzen, da sie stärkere Umverteilung voraussetzt.

Carolin Butterwegge plädierte dafür, die soziale Infrastruktur auszubauen und gut ausgestattete Bildungseinrichtungen zu schaffen, bevorzugt in Gebieten mit vielen armen Menschen. Das heißt, Kitaplätze sollten jetzt überproportional in benachteiligten Vierteln entstehen. Wenn arme Eltern ihre Kinder möglichst früh in die Kita schicken, wird Benachteiligung effektiver abgebaut als zuhause. Doch dazu muss auch die Qualität der Betreuung über eine bessere Kind-Fachkraft-Relation gestärkt werden. Voraussetzung für steigende Kitabesuchszahlen armer Kinder ist die Gebührenfreiheit, die auch ein kostenloses Mittagessen einschließen soll. 

Wie wichtig Jugendzentren und andere soziale Treffpunkte sind, weiß Franco Clemens aus seiner langjährigen Erfahrung als Streetworker. Im Stadtteil Kölnberg ist allerdings beispielhaft eine gegenteilige Entwicklung zu beobachten. Anstatt den Stadtteil durch Einrichtungen zu stärken, ziehen sich diese zurück, wie in jüngster Zeit durch die Schließung der letzten Kita oder den Rückzug des Bürgerhauses. Aber die Kita und das Bürgerhaus werden genau dort gebraucht, genauso wie ein größerer Jugendtreff, Beratungsstellen direkt vor Ort etc.

Wichtig sind auch Vermittler zwischen den einzelnen, von Armut betroffenen communities und dem staatlichen Unterstützungssystem. Gute Arbeit leisten hier beispielsweise die Stadtteilmütter, die Betroffene in ihrer Muttersprache u. a. über ihre Rechte und Ansprüche aufklären und bei Behördengängen begleiten. Ganz zentral im Kampf gegen Armut ist es auch, Mobilität zu gewährleisten, hauptsächlich durch den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs.

Um in der Bildung Barrieren abzubauen, an denen arme Kinder scheitern, muss eine frühe Selektion vermeiden werden. Die Grundschulzeit sollte sechs Jahre betragen, danach eine gemeinsame Schule für Alle bis zur 10. Klasse anschließen.

Auch Ganztagsschulen bauen Ungleichheit ab. In ihnen finden alle dieselben Lernvoraussetzungen, unabhängig davon, ob das Kind Eltern hat, die Hausaufgaben erklären können oder Eltern, die nicht gut Deutsch sprechen, oder ob es einen eigenen, ruhigen Arbeitsplatz besitzt oder sich dafür den Esstisch mit mehreren, auch kleinen und lauten Geschwistern teilen muss.

Dabei gilt der Grundsatz „Ungleiches Ungleich behandeln“. Schulen in benachteiligten Stadtteilen, mit einer schwierigeren Schülerschaft brauchen besondere Unterstützung: Mehr Lehrer*innen, kleinere Klassen, flächendeckend Schulsozialarbeit, einen Materialfonds (weil die Eltern keine Ressourcen haben, Schulkosten über einen Förderverein zu unterstützen) und ein funktionierendes Netzwerk zur Unterstützung.

Neben dem Verschieben der Gewichte im Ausbau der Bildungs- und sozialen Infrastruktur gibt es weitere „schnelle“ Maßnahmen, die eine Verbesserung der Startchancen mit sich brächten. Dazu gehört, Handys und einen Internetanschluss als Teil der Existenzgrundlage zu begreifen, die auch für jeden Hartz IV-Empfänger zur unbedingt zu gewährenden Grundausstattung gehört. Spätestens der Distanzunterricht infolge der Coronapandemie und die daraufhin einsetzende Digitalisierung der Schulen haben gezeigt, dass man ohne Computer und Internet abgehängt ist.

Fraglich ist es aber, ob die Kommune allein die notwendigen Investitionen in die Infrastruktur aufbringen kann. Hier ist vielmehr eine konzertierte Zusammenarbeit aller staatlichen Ebenen, von der Kommune über das Land bis hin zum Bund gefragt.